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Schrott und Rechthaberei

Als wäre es nicht schon genug, dass ich selbst die Sammlerwut kultiviert habe und wir von allem zu viel haben, läuft in unserem Haushalt noch eine Mini-Me herum, für die alle Stofftiere eine Seele haben und die regelmässig durch die Küchenabfälle grast mit den Worten: „Das darfst du nicht wegschmeissen, Mami! Das kann man noch zum Basteln brauchen!“

Ich habe mir geschworen, wenn die Kleine dann mal in den Kindergarten geht, wird mein Inquisitions-Feldzug gegen all den Schrott geführt, der mich schon lange nervt. Um ein Exempel zu statuieren, kramte ich donnerstags ein Paar Turnschläppli (Gymnastikschuhe) aus dem Schuhgestell. Die mit dem grossen Loch bei der grossen Zehe. Klammheimlich stopfte ich sie im Abfallsack ganz tief nach unten ausser Sichtweite. Wir hatten ja ein neues Paar gekauft. Und das ist das Ende der Geschichte, dachte ich. Denkste…

Sonntags zieht mein Mann oft mit den Kindern los, damit ich meine Ruhe habe. Heute steht Tummelplatz auf dem Programm. Mein Nervenkostüm ist selten so angespannt, wie in den fünf Minuten, in denen die Kids die Schuhe anziehen und bis dann endlich die Tür hinter ihnen ins Schloss fällt. Und genau in dieser heiklen Phase steht plötzlich die Frage im Raum: „Mami, wo sind meine Turnschläppli?“

Das angespannte Mami-Monster sagt der Wahrheit entsprechend eiskalt: „Oh, die? Die habe ich fortgeschmissen! Du hast ja jetzt neue!“

Ein gequälter Aufschrei zerschneidet die Luft, als meine Tochter fassungslos anfängt zu kreischen: „Aber die habe ich doch so gern!!! Und was passiert jetzt mit denen, wenn du sie fortschmeisst?“

Mit monotoner Stimme erkläre ich ihr den Kreislauf der Kehrichtverbrennungsanlage, während ich entnervt die Augen verdrehe und gegen die Haustür sinke. Wenn doch nur endlich alle verschwinden würden!

Ja, Freunde, es ist die traurige Wahrheit, manchmal kann ich nicht aus meiner Haut.

Die Situation artet wenig überraschend noch weiter aus, weil die Grosse jetzt auch noch solidarisch mitheult und die Kleine lautstark verlangt zu wissen, was den mit dem schönen pinken Muster auf den Schuhen geschieht, wenn die Schuhe brennen. „Ich we-he-he-herde diese Turnschläppli nie-hie-hie vergessen!“, schluchzt sie.

Mein Mann hält das heulende Volk im Arm und wirft mir einen vorsichtigen Blick zu. Ich hadere immer noch blind mit meinem Recht, kaputte Dinge zu entsorgen.

„Sag ihr, es tut dir leid!“, formt mein Mann mit den Lippen. Und zu meiner Unfähigkeit, richtig zu reagieren, gesellt sich die Scham, dass ich tatsächlich immer noch darauf beharre, dass mein Abfall-Management wichtiger ist, als die verletzten Gefühle meiner Tochter, deren Welt noch so klein ist.

Eine Erinnerung an Klein-Lydia steigt in mir auf, wie sie ihren vertrockneten Filzstiften einen Abschiedskuss aufdrückt, bevor sie den Weg allen Abfalls geben, mit dem Versprechen, dass ihre Gedanken sie begleiten werden, obwohl sie sich in diesem Leben nicht mehr sehen werden.

Ich knie mich also vor meine Tochter hin: „Es tut mir leid, dass ich deine Schuhe fortgeschmissen habe!“, sage ich.

Und aus dem sturen Nebel der Rechthaberei wird mir plötzlich sonnenklar, dass es für mein Kind in diesem Moment nicht nur bei leeren Worten bleiben darf, sondern dass den Worten Taten folgen müssen. Ich überschlage kurz: Die Schläppli habe ich donnerstags entsorgt. Heute ist Sonntag. Abfallentsorgung kommt erst am Dienstag.

Ich eile in die Küche, hole eine Schere und frage meinen Mann: „Wie gut stehen die Chancen, dass du unseren Abfallsack im Container unter all den anderen wiedererkennst?“

„Die Chancen stehen gut!“, antwortet er mit einem Schmunzeln um die Lippen, als ihm aufgeht, was ich vorhabe. „Aber nimm auch das Klebeband mit.“

Und so steht Familie Schwarz fünf Minuten später im Zentrum des Wohnquartiers und lokalisiert den richtigen Abfallsack unter all den anderen, die sich seither dazu gesellt haben. Mit spitzen Fingern klaube ich ihn heraus. Ein ganzes Madenvolk lebt darauf. Der Gestank ist bestialisch.

Mein Mann gibt mir Anweisungen, wo ich schneiden muss, denn er hat der Sparsamkeit halber zwei Abfallsäcke so dicht zusammengepresst, dass kein Fingerbreit dazwischen geht. Ich führe die Schere mit der Präzision eines Skalpells das eine Eiterbeule aufsticht. Der Würgereiz reisst an meiner Kehle.

Das Desaster wird plötzlich zu einem Abenteuer. Die Tränen der Kinder verwandeln sich in Ekelgeschrei und schliesslich in Freudenrufe, als die unsäglichen Turnschläppli endlich wieder das Tageslicht erblicken.

Ich klebe den Abfallsack wieder fachmännisch zu und befördere ihn verächtlich dahin, wo er hergekommen ist. Die Kinder tragen die Turnschläppli bis zur Waschmaschine. Der Zwischenraum ist gefüllt mit Tränentrocknen, Lachen, Umarmungen und Entschuldigungen.

„Bist du jetzt zufrieden?“, raune ich meinem Mann zu. Und er nickt und lächelt fein.

Mir wird die Weisheit meiner Mutter bewusst, als sie mir eines Tages ironisch sagte: „Die Frage bleibt offen, wer bei der Kindererziehung die wichtigsten Lektionen lernt.“

Klar ist auch, dass niemand von uns diese Turnschläppli so schnell wieder vergessen wird.

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Unzufrieden?

Na? Heute schon unzufrieden gewesen? Ich schon! Und zwar mit meinen Kindern. Weil diese wiederum unzufrieden waren mit dem Essen, das ich ihnen aufgetischt habe.

Jaja, ich weiss ja, dass man die Kinder nicht zum Essen zwingen soll und dass ihre Geschmacksknospen sich erst mit der Zeit vollends entwickeln und blablabla …

Aber heute ist mir echt der Kragen geplatzt. Ich bin nicht Köchin aus Leidenschaft. Ich stelle das Essen auf den Tisch, weil jemand es tun muss und weil die Kinder sich halbwegs gesund ernähren sollten et cetera.

Und ja, ich zermartere mir pausenlos das Gehirn, von dem Moment an, wenn ich das Essen aus dem Einkaufsregal nehme und in den übervollen Einkaufswagen stopfe, bis zu dem Zeitpunkt, wenn ich vor dem geöffneten überbordenden Kühlschrank stehe und mir den Haarboden wundkratze, weil ich etwas Fantasievolles zaubern möchte, mir aber beim besten Willen nix einfällt, das ich in den letzten zwei Wochen nicht schon zigmal gekocht habe.

Heute ist Sonntag. Der Sonntag, an dem andere die Füsse hochlegen, aber Mutter trotzdem das Essen auf den Tisch stellen muss. Ich habe nicht mal eine schlechte Idee: Gefüllte Paprika mit Hackfleisch, das an anderen Tagen auch schon von allen klaglos gegessen wurde. Ich habe während des Kochprozesses Freude an meinem neuen Backofen, der jetzt endlich hält, was er verspricht. Ich stelle das Backblech auf den Tisch – und dann geht’s los:

„Was ist das? … So wenig Auswahl? … Ich habe die Zwiebeln nicht gern … Es ist zu heiss … Ich habe das Hackfleisch nicht gern … “ Und dann schlürfen sie schon mal gemächlich ihr Sirüpchen, als würde plötzlich wie durch ein Wunder etwas anderes auf ihren Tellern erscheinen, wenn sie nur noch genug lange warten.

Der Gipfel ist erreicht, als meine Dreijährige eine Paprika vom Teller nimmt, sie schüttelt und das Hackfleisch uns allen um die Ohren fliegt.

Wut dreht eine brennende Spirale meine Speiseröhre hoch und äussert sich dummerweise in Tränen. Die Stimmung kippt schlagartig auf Alarmstufe Rot. Wie immer, wenn Mami weint. (Ach, die liebe Dünnhäutigkeit … Was gäbe ich in einem solchen Moment um ein Pokerface!)

„Warum weinst du?“, piepst eine der zwei Delinquentinnen ganz vorsichtig.

„Weil ich wütend bin“, antworte ich ehrlich.

„Auf wen?“

„Auf euch!“

Und das lasse ich einfach mal eiskalt so im Raum stehen.

Papi erläutert dann der betroffenen Nachkommenschaft meine schroffen Worte, erklärt geduldig und leistet Schadensbegrenzung.

Wie dankbar bin ich um seinen kühlen Kopf. Denn in der Wuthitze brauche ich meine restliche Selbstbeherrschung, um nicht den vollen Porzellanteller an die weisse Wand zu deppern. Ich habe keine Luft für vernünftige Erklärungen.

Nach kurzer Zeit merke ich, dass ich eigentlich nicht wirklich auf die Kinder wütend bin. Denn sie spiegeln ja nur das wieder, was ihnen vorgelebt wird. Von uns. Als Eltern. Als Gesellschaft.

Ich bin auch nicht so sehr verletzt, weil die Arbeit meiner Hände einmal mehr nicht gewürdigt wird. (Undankbarkeit ist nicht schön, aber irgendwie Teil des Jobs.)

Aber ich bin wütend auf das grosse Ganze. Auf uns Schweizerinnen und Schweizer, weil wir so unverschämt reich sind. Wir sitzen in einem Füllhorn von Nettigkeiten und drehen trotzdem durch wegen der Aussicht, dass ein Lieferengpass für eine von 45 möglichen Müesli-Sorten bestehen könnte.

Ich bin wütend, weil ausserhalb unserer Seifenblase, Menschen buchstäblich an Armut und Hunger verrecken und wir so erfolgreich darin sind, diese Tatsachen zu verdrängen.

Wir sorgen uns um unser eigenes kleines Leben und unser kleines Gärtchen mit dem Zaun drum herum. Dabei muss in der Notsituation unser Ueli nur wieder mal sein Staatskässeli schütteln, dann fallen wieder ein paar Milliärdchen mehr raus – und gut is‘.

Und während ich nach Worten ringe, wie ich den Kindern erklären soll, was in mir vorgeht, nehme ich sie auf den Schoss und erzähle ihnen die Geschichte vom kenianischen Mädchen, nennen wir sie Ndanu.

Ndanu war etwa vier Jahre alt, als ich sie kennenlernte. Sie kam jeden Morgen einen weiten Weg zu dem Kindergarten, in dem ich damals aushalf.

Die Kindergärtnerin überliess morgens Ndanu und ihre Kameraden etwa eine Viertelstunde meiner alleinigen Obhut, um in ihrer Küche einen unansehnlichen Brei zu kochen, den sie den Kindern zum Znüni in farbigen Bechern servierte. Ich probierte einmal eine Messerspitze voll. Es war eine lauwarme geschmacklose Pampe von hellbrauner Kotz-Konsistenz.

Niemals vergesse ich Ndanus Gesicht, die einen Schluck von der Sosse nahm, und mich dann mit einem Mäusezähnchen-Lächeln anstrahlte. Es schmeckte ihr, das war offensichtlich.

„Es ist für viele die einzige warme Mahlzeit am Tag“, informierte mich die Kindergärtnerin.

Der Kontrast dieser strahlenden Augen wegen einer erbärmlichen Mahlzeit, zu dem unzufriedenen Gemecker meiner Kinder in Anbetracht einer üppigen Mahlzeit könnte nicht grösser sein – und ist wie ein Schlag in die Magengrube.

Wie kann ich meinen Kindern beibringen, dass wir eigentlich in einer Fake-Welt leben? Dass wir zu einer minimalen Oberschicht gehören, die in Saus und Braus lebt und doch niemals genug hat? Das unsere Kaninchen besser essen, als viele Kinder in anderen Teilen dieser Welt. Wie kann ich sie sensibilisieren, ohne ihnen unnötige Schuldgefühle einzuimpfen? Denn niemand von uns kann etwas dafür, dass wir so privilegiert geboren sind.

Hilflos überlege ich, was ich denn überhaupt in meiner bevorzugten Stellung machen kann, um Armut und Hunger zu lindern.

Soll ich Geld spenden? Nützt es, wenn ich (nach der Corona-Pandemie) Leute in armen Ländern besuche?

Gibt es überhaupt noch Hilfsorganisationen, die nicht korrumpiert sind? Gibt es noch Menschen und Firmen, die uneigennützig ohne Rücksicht auf ihre eigene Gesundheit und ihren Wohlstand anderen Menschen helfen?

Wenn ich mich selbst anschaue, wenn ich einen Blick in die Welt mache, zweifle ich stark daran und finde heute keine Antwort darauf. Was bleibt ist die Wut – und die Unzufriedenheit.

Photo by James Fitzgerald on Unsplash

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Hasenfuss oder Löwenherz?

Heute Morgen gibt es erstmal kein Frühstück sondern einen Schock: Eines unserer jungen Kaninchen liegt tot im Käfig.

Ich gebe zu, ich habe soeben mehr als nur eine Träne vergossen.

Was? Ich? – Die ich haustierlos aufgewachsen bin und Tierhaltung immer als etwas eher Überflüssiges empfunden habe?

Ja, ich weine, weil mir einerseits das arme flauschige Fellknäuel so furchtbar leidtut. Andererseits, weil ich es meiner sechsjährigen Tochter – einer erklärten Tiernärrin –  noch beibringen muss. Auf Vorschuss leide ich schon mit, weil ich weiss, wie schwer es sie treffen wird. Wenigstens bin ich dankbar, dass ich das Häschen gefunden habe und nicht sie.

Und natürlich zermartere ich mir das Hirn, was ich falsch gemacht habe und mache mir Vorwürfe.

Äusserlich hat das Tierchen keine Verletzungen vorzuweisen und auch sonst trifft keines von möglichen Ursachen zu. Die Diskussion mit dem Züchter ergibt, dass ein Kaninchen eine Herzattacke erleiden kann, wenn es wegen einem anderen Tier erschreckt. Einem Raubtier zum Beispiel.

Und da fällt mir ein, dass ich gestern Nacht mit Herzrasen erwacht bin und gedacht habe, etwas hätte mich geweckt, das ich aber nicht zuordnen konnte. Der stürmische Herbstwind tobt indes schon seit gestern ums Haus und verursacht allerhand Geräusche an sämtlichen Gegenständen, die nicht niet- und nagelfest sind. Deshalb bin ich wieder schlafen gegangen.

Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass ein Fuchs aus dem nahen Wald eine makabre Form vom Schweizer Kinderreim: „Lueget ned ume, de Fuchs goht ume …“ gespielt hat. Und dass das Kaninchen an seiner Angst verendet ist. Das arme Wesen! Ich muss wieder weinen.

Und da fällt mir ein, dass wir Menschen uns oft wie ein Häschen in Todesangst benehmen.

Der Fuchs, in diesem Fall ein Sinnbild für die Angst, schleicht in diesen Tagen viel listiger und gemeiner um unsere Hütten als auch schon.

Vielleicht sitzen wir in der Ecke und zittern, weil wir denken: „Der kriegt uns! Jetzt sind wir dran!“

Das Kaninchen wusste nicht, dass der Fuchs nicht in den Stall rein kann, weil wir ihn gewissenhaft fuchssicher eingerichtet haben.

Auch für uns Menschen mag eine Bedrohung real sein, aber unsere Luxus – Käfige sind in der Regel fuchssicher.

Trotzdem hüpfen wir herum und quieken und ängstigen uns zu Tode. Äusserlich sieht man es uns vielleicht nicht an, aber innerlich sind wir bereits vor Angst erstarrt.

Aus eigener Erfahrung weiss ich, dass die Angst in diesem Jahr Hochkonjunktur hat. Aufgepeitscht von Meinungen und Tatsachen, Fakten und Fiktion.

Und so dreht der „Angst-Fuchs“ munter noch eine Runde um unseren Stall. Jagt uns hin und her und rauf und runter, drängt uns in die Ecke, raubt uns die Lebensfreude.

Wie gerne wäre ich gestern Nacht rechtzeitig aufgestanden, hätte den Fuchs vertrieben und dem Häschen zugerufen: „Der kann dir nichts!“

Aber ich habe geschlafen.

Gott schläft nicht! Er weiss das der Angst-Fuchs um deinen Stall herumschleicht, und er ruft dir zu: „Der kann dir nichts!“

In der Bibel steht, dass Gott uns kein Hasenherz gegeben hat, sondern ein Löwenherz. (Zum Zweck der Geschichte aus 2.Timotheus 1,7 angepasst.)

Und was tut ein Löwe, wenn der Fuchs, um seinen Stall schleicht? Er bleckt die Zähne und brüllt den Fuchs an. Und der muss abhauen.

Lasst uns also keine Hasenfüsse sein, sondern Löwinnen und Löwen, die der Angst ins Gesicht brüllen. Sie wird fliehen müssen!

Photo by Keyur Nandaniya on Unsplash

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Die Lage ist ernst

Den Moment werde ich nie mehr vergessen: Die Bundespräsidentin der Schweiz* blickt gefasst und eindringlich in die Kamera und verkündet mit schwerem Tonfall: „Meine Damen und Herren, die Lage ist ernst!“ Im gleichen Atemzug gibt sie die Schliessung aller Schulen bekannt. Etwas, das ich Stunden zuvor für absolut unmöglich gehalten habe, ist Tatsache.

Gemeinsam mit Tausenden weiteren Schweizerinnen und Schweizern begriff ich in diesen Minuten vor der Glotze: „Ja, das Virus, mitsamt der Angst im Schlepptau, ist jetzt auch bei uns angekommen.“ Was ich zuvor innerlich noch als „chinesische Seuche“ belächelt hatte – „Da haben sie ja ständig was.“ – wurde zum grössten Eingriff in die Zivilgesellschaft seit dem Zweiten Weltkrieg. Keiner wusste so genau: „Wie lange? Wo? Wann? Wer? Wie schlimm? Und was ist jetzt mit diesen Masken?“

Ich versuchte mich ungläubig mit der Tatsache anzufreunden, dass fortan Kind und Kegel (und Ehemann) pausenlos über meinen Küchenboden und meine Nerven hinwegtrampeln würden. Während ich mir die Hände wund schrubbte, googelte ich um Rat mit den Suchbegriffen: „Wie halte ich es länger als zwei Tage hintereinander mit meinen Liebsten aus?“ Oder: „Wie ertrage ich mein Kind ohne Lehrerin und Grosi**?“

„Mentale Hygiene“ wurde mein Mantra und „Sich jeden Tag neu erfinden“, meine neue Religion. Gähnende Leere im Terminkalender. Zitternde Knie beim Einkaufen. Der pure Kulturschock inmitten meiner vier Wände.

Dabei gehörte ich noch zur glücklichen Spezies: Mein Mann arbeitete ein bisschen im Homeoffice (Nähe!), ein bisschen in seinem Büro weit weg (Distanz!), und ein bisschen hatte er mehr frei (Thank you, God!!!). Meine zwei Mädels lernten hingebungsvoll miteinander zu spielen und bis auf die misslungene Episode mit dem Basteln siehe Eintrag „Dinosaurier und Magengeschwüre“ kamen wir ohne fremde Beschäftigungstherapie zurecht.

Bei mir persönlich herrschte kompletter Shutdown: Arbeit? Gestrichen! Sprachkurs? Abgesagt! Gottesdienst? Gecancelt! Freunde treffen? Gelöscht! Routinetermine? Weg damit! Mein Terminkalender war schneller geleert, als die ersehnte Wasserflasche eines Marathonläufers.

Anfangs hyperventilierte ich kurz: „Werden meine Eltern sterben?“ Oder: „Ich habe Schnupfen! Wen habe ich jetzt alles mit COVID-19 angesteckt?“ Dann kam ich zur Ruhe.

Herrliche, atmende, inspirierte Ruhe! Plötzlich war es genug, nach dem Essen noch ein bisschen sitzenzubleiben, ohne zu einem abendlichen Termin zu hetzen. Es war genug, morgens auf der Bettkante zu hocken und keinen Plan zu haben. Es war genug, einen halben Bibelvers zu lesen und drei Wochen lang immer wieder über dessen Schönheit und Bedeutsamkeit zu meditieren.

Gespräche mit Freunden und Nachbarn wurden einfach. Man freute sich über jedes bekannte Gesicht ausserhalb der vier Wände. Man lächelte sich an, verdrehte verständnisvoll die Augen, sagte „Wie geht’s?“ und „Bleibt alle gesund!“ und winkte zum Abschied kräftig und kehrte dann in seine Höhle zurück.

Vor meinen Augen verwandelte sich die pausenlos herumwuselnde, burnout- und herzinfarktgefährdete Insta-Gesellschaft in ein Volk von haustierhaltenden, hochbeetbepflanzenden, radfahrenden Naturburschen und –mädels! ***

Und ich selbst schrieb, schrieb, schrieb so viel wie seit Monaten nicht mehr. Nachdem beinahe alle äusseren Einflüsse weggefallen waren, mutierte mein Hirn zu einer beinahe unerschöpflichen Quelle kreativer Einfälle. Die letzten drei Wochen des Lockdowns dachte ich immer wieder: „Ich bin glücklich! So darf es bleiben! Eigentlich möchte ich nicht mehr zurück auf Hundert.“

Aber die Realität schlug unbarmherzig zu. Drei Wochen nach Schulstart hänge ich abends um acht wieder erschöpft auf der Sofakante und lasse den Tag Revue passieren:

„Habe ich jetzt den Wisch von der Schule unterschrieben oder gammelt er noch in der Küchenschublade vor sich hin? – Wem habe ich jetzt noch versprochen, dass wir uns nach dem Lockdown uuuunbedingt treffen wollen, weil wir uns ja soooo vermisst haben. – Und wie soll ich all die nachzuholenden Partys aneinander vorbeibringen?“

Ich rase mit 120 Stundenkilometern auf die Destination „Zustand wie vor dem Lockdown“ zu und frage mich verzweifelt, wo die Ausfahrt ist. Mein Mann hängt neben mir auf der Sesselkante. Augen zu und bleich um die Nase nach einer Woche mit sehr vielen Überstunden. Er seufzt abgrundtief, das Echo meines stummen Hilfeschreis.

Die Welt da draussen diskutiert sich die Köpfe heiss, welches Unternehmen noch eine Finanzspritze kriegt und ob und wann die zweite Welle über uns hereinbricht? Aber meine einzige Frage hier ist: „Liebe Frau Bundespräsidentin, wo ist das rote Plakat mit den Anweisungen, wie man sich resozialisiert, ohne auszubrennen?“ Soll mal jemand dazu eine Pressekonferenz halten … die Lage ist nämlich ernst.

*Bundespräsidentinnen und Bundespräsidenten der Schweiz werden vom Parlament für nur ein Jahr gewählt. Der- oder diejenige ist dann für das Jahr „primum inter pares“ oder „Erste/r unter Gleichen“. Das heisst, für begrenzte Zeit, begrenzte Macht.

** Offizielle Job-Bezeichnung für Grossmutter. In unseren Breitengraden Allzweckwaffe und Zufluchtsort, wenn einem die Kinder zu nahe treten.

*** Achtung! Hier leicht rosarot-romantisierte Wahrnehmung der Wirklichkeit!

Photo by Luis Villasmil on Unsplash

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Unkraut

Unkraut verdirbt nicht. Heute stehe ich am Rande meines Gartens und überzeuge mich selbst davon. Ich sehe die Gräser, die zwischen den Steinplatten emporwuchern, und die ich letzthin noch mit Unkrautvertilger hatte besprühen wollen. Vor mir liegt der samtweiche aber unregelmässig gemähte Rasen, denn die Klinge des Rasenmähers ist auf einer Seite stumpf geworden. Im Wintergarten wartet ein Korb mit zusammengelegter Wäsche auf mich.

Wo ich mich umschaue, sehe ich, was ich noch tun könnte, um alles um mich herum schöner und besser zu machen. Im Haus drin fällt mein Blick auf die weisse Wand, an der sich die Kleine in einem unbeobachteten Moment kreativ mit Farbe ausgetobt hat. Sehe den Schuhsalat in der Garderobe, den Bücherstapel, den die Kinder immer wieder von Neuem durchlesen und der schon ganz schief auf der Sofalehne hängt.

Zu Hause wurden wir in Fragen des Haushalts mit finnischer Hand erzogen. Es ist nicht so, dass wir in einem heillosen Chaos grossgeworden wären, aber das gute alte Schweizer-Hausfrauen-Gen fliesst nicht durch unsere Venen.

Als Teenager begann ich, das Chaos anzubeten. Es war mir herzlich egal, was wo zu liegen kam, und eine schwarze Ader tief in mir drin freute sich diebisch, wenn ein Besucher sichtlich die Fassung verlor, über der Frage, wie man in einer solchen Räuberhöhle hausen kann.

Damals rebellierte ich so gegen eine Welt, in der ich ansonsten immer versuchte, auf fromme Art und Weise Gott und die Menschen zu beeindrucken. Mein persönlicher Lebensraum war der Ort, in dem ich endlich alles fallen lassen konnte. Meine Unordnung wurde in unserer Familie sogar sprichwörtlich.

Natürlich will niemand auf ewig in einer Räuberhöhle leben. Doch ich war planlos, wie ich etwas daran ändern konnte. Der geseufzte Wunsch einer Kollegin von mir: „Lydia, ich wünsche dir, dass du mal einen Mann kriegst, der Ordnung hält!“, wurde mein heimliches Gebet, was ich aber nicht mal vor mir selbst zugegeben hätte.

Der Mann tauchte auf und – oh Wunder! – er hatte einen grösseren Sinn für Ordnung als ich. Es war vorprogrammiert, dass in unserer Ehe erst mal die Fetzen flogen. Tränen flossen und unschöne Worte wechselten den Besitzer, bevor ich zugeben konnte, dass ich mir ein belehrbares Herz bewahren wollte. Und mein Mann hatte tatsächlich einen Haufen äusserst hilfreiche Tipps für meine scheinbar unheilbare Lebensweise in petto.

Und – zweites Wunder! – ich war in der Lage zu lernen. Heute kann ich in einer normalen Woche meinen Zimmerboden soweit aufräumen, dass man mit dem Staubsauger durchfahren kann. Auch im Wohnzimmer kommt die Maschine regelmässig zum Einsatz. Ich ertappe mich gelegentlich dabei, dass ich mich an einer blankgeputzten Tischplatte erfreue. So richtig. Mit tief empfundenen Glücksgefühlen und so.

Manchmal aber laufe ich durchs Dorf und beobachte die Frauen, die in und ums Haus herum arbeiten. Mit der Nagelschere frisieren sie ihren englischen Rasen, mit dem Wischmopp bohnern sie einen bereits blitzblanken Eingang und in fieberhafter Wut, polieren sie Fensterscheiben.

Fünf Minuten falle ich dann in die die zwei Todsünden – das Vergleichen und den Neid – zurück und bedaure: „So weit werde ich nie sein.“

Und nach den Momenten der Unzulänglichkeit, spüre ich tief in meinem Herzen, dass ich es mag – das Unperfekte. Ich mag den gelben Löwenzahn, der zwischen den Steinplatten emporwächst. Ich liebe es, wenn meine Kinder die Walderdbeeren pflücken, die überall sind, wo sie nicht sein sollten. Ich liebe schräge Linien, und Kleider, die nicht zusammenpassen. Ich mag Bücherstapel und Schuhsalate und kunterbunte Wäschekörbe.

Ich fühle mich sehr wohl in dem Niemandsland zwischen Saustall und Paradiesgarten. Da lässt es sich nämlich wunderbar leben.

Photo by Teemu Paananen on Unsplash

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Dinosaurier und Magengeschwüre

„Bastelt mit euren Kindern!“, sagen sie. „Es fördert die Sozialkompetenz“, sagen sie.

Bastelkurs, Bastelmaterial, Bastel-Blog … es wimmelt nur so von Bastel-Ratschlägen. Bei Müttern zirkulieren sie im Allgemeinen sehr häufig, jetzt zu Corona-Zeiten besonders oft. Vom Kindergarten bekamen wir sogar ein wunderbares Heft namens „Bastel-Zauber“.

Seit jeher löst das Wort „Basteln“ bei mir einen leichten Würgereiz aus. Egal wie zauberhaft es mir präsentiert wird.

Heute, Sonntag, dachte ich mir, gebe ich dem Druck meiner missgelaunten Sechsjährigen nach: „Mami, wann basteln wir endlich etwas aus dem Kindergarten-Buch?“

Ich folge selbst meinem Rat, den ich meinen Kindern im Leben mitgeben möchte: „Springe über deinen Schatten! Geh an deine Grenzen! Versuch’s nochmal! Wenn man will, kann man (fast) alles lernen.“

Also schlagen wir das gefürchtete Ding auf und lesen: „Kugelbahn!“

„Okay!“, rede ich mir selbst gut zu. „Das ist das kleinste Übel aller Scheusslichkeiten, die ich hier sehe. Du schaffst das!“

Schnell sind alle Klopapierrollen aus den Tiefen des Kellers gegraben und das Malerabdeckband organisiert.

Und das Drama nimmt seinen Lauf: Ich zwinge meine steifen Fingergelenke dazu, den ganzen Müll zusammenzukleistern und regelmässig zerfällt alles wieder in seine Einzelteile, wenn ich gerade denke: „So, jetzt hab ich’s!“

Wie ein aussterbender Dinosaurier brülle ich durchs Wohnzimmer: „Afterlife! Aaaafterlife!!!“ (damit ich mir von meiner Tochter nicht sagen lassen muss: „A***loch, sagt man eigentlich nicht, Mami!“)

Sie sitzt mit einem skeptischen Sicherheitsabstand neben mir, hilft ein bisschen, wenn ich zwischen meinen Zähnen hindurchknurre: „Halt das mal!“ und sagt schliesslich lakonisch: „Deine Schwester hat aber mehr Geduld als du.“

Ich belle, pädagogisch nicht sehr wertvoll, zurück: „Ja, und genau darum bastelt sie auch, und ich nicht!“

Und jetzt sitze ich, als unterzuckertes Häufchen Elend in der Ecke und betrauere mein pulverisiertes Nervenkostüm, das ich eigentlich noch für den Rest des Tages gebraucht hätte und das ich jetzt so leichtfertig für das hässliche Geschwür an der Wand verbraten habe, welches den morgigen Tag eh nicht erleben wird. Und in meiner Schulter sitzt ein hartnäckiger Stress-Knoten.

Einmal mehr beschliesse ich: Zehnmal lieber, lehre ich meine Kinder sämtliche Flaggen und Hauptstädte der Welt, bringe ihnen bei auf Französisch, Englisch, Finnisch und Suaheli zu zählen und lese ihnen Geschichten vor, bis die Sonne untergeht, als mich noch einmal durch solch eine Tortur zu schleifen. Schuster, bleib bei deinen Leisten!

Liebe Bastel-Freundinnen, ihr seid meine neuen Super-Heldinnen! Aber eins soll euch geflüstert sein: Die Welt ist ein besserer Ort, wenn Lydia Schwarz NICHT bastelt!

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Fassade

In den letzten Tagen und Wochen sind mir einige Menschen über den Weg gelaufen. Wobei man sich ja nicht mehr über den Weg laufen darf. Und deshalb muss ich korrekterweise sagen: Ich habe von ihnen gehört und gelesen.

Da gibt es die Corona-Verunsicherten: „Ich habe Schnupfen. Darf ich jetzt noch einkaufen gehen?“

Die Corona-Leugner: „Die Massnahmen des Bundes sind alle komplett übertrieben.“

Die Steigerung der Corona-Leugner sprich die Corona-Verschwörungstheoretiker: „Das ist alles nur ein Pakt der Klimaschützer! Das Virus wurde im Labor gezüchtet und von den Amerikanern bzw. den Chinesen auf die Menschheit losgelassen.“ (Das ist meine Lieblingsvariante. Darüber möchte ich gerne einmal einen Science-Fiction-Roman schreiben.)

Die Corona-Angsthasen: „Ich lebe von nun an unter meinem Bett. Wir sehen uns frühestens in vier Wochen wieder.“

Die Corona-Fatalisten: „Schlussendlich kommt es mir nicht so drauf an, was mich in den Himmel befördert. Wenn meine Zeit gekommen ist, dann ist sie gekommen.“

Die Corona-Abgebrühten: „Corona? Was ist das? Ich kann mich noch an die Lebensmittelmarken im Zweiten Weltkrieg erinnern!“

Die Corona-Hardcore-Psalm-91-Beter: „Selbst wenn die Pest im Dunkeln zuschlägt, und am hellen Tag das Fieber wütet, musst du dich doch nicht fürchten.“

Die Corona-Unheilspropheten: „Das wird alles noch viiiiel schlimmer.
60 – 70 % der Bevölkerung werden sich infizieren und davon werden 5 % sterben.“

Die Corona-Besserwisser: „Nein, es sind nicht 5 %, sondern 4,4 %.“

Die Corona-Jammerlappen: „Die Welt ist schlecht. Und mir geht’s gerade auch so richtig schlimm.“

Die Corona-Aktivisten: „Wie und wem kann ich jetzt helfen?“

Die Corona-Optimisten: „Aus dem allem, werden wir als bessere Menschen hervorgehen.“

Die Corona-Mutmacher: „Kopf hoch! Alles geht vorbei! Auch Corona!“

Die Corona-Wutbürger: „Die Regierung hat’s voll nicht im Griff. Sie hätten die Massnahmen viel früher / später ergreifen sollen.“ (Nicht Zutreffendes bitte durchstreichen.)

Die Corona-Selbstgerechten: „Was sind das bloss für Asoziale, die jetzt noch vor die Haustür gehen???“

Die Corona-Selbstinszenierer: „Ich poste tausend Fotos von mir, wie ich zu Hause bleibe und meeeeega Spass dabei habe.“

Die Corona-Kreativen: „Endlich habe ich genug Zeit, um meine lang liegengebliebenen Herzens-Projekte auszuführen.“

Vermutlich gibt es noch viel mehr Kategorien, welche ich bewusst etwas überzeichnet habe. So vielfältig wir sind, so unterschiedlich gehen wir mit der Krise um.

Aber ich möchte nicht an einer Schubladisierung hängenbleiben, sondern etwas in die Tiefe gehen. Aus diesem Zweck starte ich ein Experiment. Machst du mit?

Ich suche mir eine der obigen Kategorien aus, die am ehesten auf mich zutrifft. Bei mir ist das zum Beispiel „Die Corona-Verunsicherte“. (Das zuzugeben tut mir am wenigsten weh!)

Siehst du dich selbst auch in einem oder zwei dieser Kategorien? Dann triff mal deine Wahl! Hast du’s? Gut!

Jetzt nehmen wir nämlich einen Stift und streichen bei jeder Kategorie das Wort Corona durch.

Corona-Verunsicherte

Corona-Leugner

Corona-Verschwörungstheoretikerin

Corona-Angsthase

Corona-Fatalistin

Corona-Abgebrühter

Corona-Hardcore-Psalm-91-Beterin

Corona-Unheilsprophet

Corona-Besserwisserin

Corona-Jammerlappen

Corona-Aktivistin

Corona-Optimist

Corona-Mutmacherin

Corona-Wutbürger

Corona-Selbstgerechte

Corona-Selbstinszenierer

Corona-Kreative

Und? Trifft die Bezeichnung immer noch auf dich zu?

Wenn du in den Spiegel schaust: Hast du den Mut, zuzugeben: Ja, ich bin verunsichert. Ja, ich habe Angst. Nein, ich traue der Regierung nicht. Ja, ich bin selbstgerecht.

Nebst dem, was dieses Coronavirus alles zerstört, es zerlegt auch systematisch die Fassade, die wir schon lange und so sorgsam um uns herum aufgebaut haben, und hinter der wir uns so lange verstecken konnten.

Wir kleisterten Farbe und Blumenschmuck über unsere hässlichen Charakterzüge. Ein Lächeln über ein weinendes, zerbrochenes Herz. Wir sagten: „Danke, es geht mir gut“, obwohl wir lieber schreien wollten. Wir grüssten einander freundlich, obwohl wir uns am liebsten die Meinung gegeigt hätten. Wir heuchelten Bescheidenheit, obwohl wir endlich aus unserem engen Käfig ausbrechen wollten. Wir versteckten Zorn, Trauer, üble Gedanken, Stolz oder sogar Talente.

So stolzierten wir durch die Lande, bis das Virus kam, und uns zeigt, wie dünn eigentlich der Firnis ist, den wir zur Schau tragen. Unsere echten Empfindungen streben in Windeseile an die Oberfläche. Der Lack ist ab. Und was geschieht jetzt?

Der Blick in den Spiegel mag schmerzhaft sein, aber es ist nicht das Ende der Geschichte. Es geht weder darum, sich für die eigenen Schwächen zu verdammen oder die Stärken zu verleugnen.

Wenn wir innehalten und uns ehrlich betrachten, kann es auch eine Chance sein. Eine Chance loszulassen, sich verletzlich zu machen, Mangel zuzugeben, zuzulassen heil und ganz zu werden. Oder sich wenigstens auf die Suche nach Hilfe und Antworten zu begeben.

Kann aus einem Angsthasen eine mutige Löwin werden? Oder aus einem Unheilspropheten, jemand, der auf Gott vertraut? Wird aus einer Leugnerin, eine Frau, die furchtlos der Realität ins Auge blickt? Kann aus einem Selbstinszenierer, jemand werden, der die Bedürfnisse der Menschen um sich herum wahrnimmt? Kann aus dem Sieben-Tage-Regenwetter-Pessimisten, jemand werden, der Hoffnung verbreitet?

Ich glaube: Ja!

Meine Kräfte möchte ich nicht mehr darauf verwenden, die Fassade aufrecht zu erhalten und vor anderen gut dazustehen. Stattdessen möchte ich mich auf die guten Dinge zu konzentrieren, die in mir schlummern. Der Optimismus, das Kreative, das Gottvertrauen, der kühle Kopf, die Mutmacherin, die Hoffnungsträgerin.

Denn eines Tages wird Corona aus unserem Alltag gestrichen sein. Das, was zurückbleibt, ist entscheidend.

Photo by Erik Eastman on Unsplash

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Alltag Life This I believe

This I believe-Das glaube ich

Ich bin Christin. Was bedeutet das heutzutage? Was bedeutet es für mich?

Wenn ich mich zum Christentum bekenne, stelle ich mir die Frage: Was ist eine Christin überhaupt?

Das Wort „Christin“ kommt vom Namen Jesus Christus, dem Gründer und Zentrum des Christentums. Wenn ich sage, ich bin Christin, dann bin ich eine Nachfolgerin von besagtem Christus.

Was bedeutet es, eine Nachfolgerin von Christus zu sein? Ich möchte tun, was er sagt.

Wie finde ich heraus, was er sagt? Ist es so, dass Gott heute noch spricht? Oder ist das Ganze nur ein fauler Zauber?

In der Öffentlichkeit wird das fundamentale Christentum oft abgehandelt. Diese Christen, von denen die Medien sprechen, sind in der Regel altmodisch und im Allgemeinen eher intolerant und lust- und lebensfeindlich dargestellt.

Ich muss zugeben, wenn ich solche Artikel lese, zieht sich manchmal mein Magen zusammen, mein Herz klopft hektisch, ich kriege Schweissausbrüche und bleibe dann ratlos und verwirrt zurück.

Was hier in diesem Bericht steht, bin doch nicht ich!, denke ich. Oder etwa doch?

Ich bin Christin. Aber heisst das jetzt, dass ich homophob bin? Darf ich liberale Feministin sein oder muss ich patriarchalische Gesetzlichkeit unterstützen? Vermittle ich meinen Kindern eine restriktive Sexualerziehung? Oder propagiere ich die Freiheit in allem?

Wo positioniere ich mich? Zu was bekenne ich Farbe?

Und: Muss ich das überhaupt???

Ist das Christentum eine blosse Abfolge religiöser Handlungen und sturer Meinungen? Oder reicht der Glaube bis in den Kern meines Seins und Alltags?

Dies leitet mich zu der Frage: Was glaube ich eigentlich?

Was bringt mich dazu, als klar und vernünftig denkender aufgeklärter Mensch, den Glauben meiner Vorfahren nicht fortzuwerfen, sondern mich zu ihm zu bekennen?

Was ist Glaube überhaupt?

Mein Glaube ist das Überzeugtsein von etwas, das ich nicht sehen kann. Er ist eine Mischung zwischen empfundener Emotion und Resultat langer Überlegungen. Es ist eine Zusammensetzung aus Prägung und eigener Erfahrung.

Glaube ist persönlich und so individuell wie ein Fingerabdruck.

In nächster Zeit möchte ich auf diesem Blog unter anderem über den Glauben schreiben. Es geht nicht um eine Verteidigungsschrift oder ein Manifest. Sondern meine Bestandsaufnahme.

Was glaube ich? Warum glaube ich? Was hält den Stürmen des Lebens stand? Was bleibt fest, wenn die Angst alles um mich herum pulverisiert? Wofür schäme ich mich nicht?

Was bedeutet der christliche Glaube heute? Was bedeutet er für mich?
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Photo by Steve Halama on Unsplash

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Klatschweib

Eine Wortstudie

Wo zwei oder drei Menschen, vornehmlich weiblichen Geschlechts, beisammen sind, da ist es mitten unter ihnen. Das Klatschen.

Mit diesem Klatschen ist nicht die Bedeutung gemäss Duden Definition 2 a) gemeint, wo steht: die Innenflächen der Hände [wiederholt] gegeneinanderschlagen, sondern die Definition 4 a): in geschwätziger Weise [über nicht Anwesende] reden.

Wie oft habe ich selbst in der Nicht-Anwesenheit einer Person meine Sätze folgendermassen angefangen: „Hast du gesehen, wie der … ?“ oder „Kannst du glauben, dass die … ? Imfall!“
Wie vertraut bin ich mit meinem klatschenden Ich und möchte ihm ab und zu gerne eine klatschen  gemäss Definition 3 a): mit der flachen Hand klatschend schlagen.

Mein inneres Klatschweib wird nämlich in der Regel von drei Motoren angetrieben:

  1. Unzufriedenheit: „Andere jetten rund um die Welt und schwimmen im Roten Meer, während ich knietief durch die Spielsachen im Wohnzimmer wate.“
    Oder: „Berufskolleginnen hauen pro Jahr ein Buch raus und ich kann mir während Monaten kaum einen vernünftigen Satz aus dem Ärmel leiern.“
  2. Langeweile und die Sensationsgeilheit, die daraus resultiert: Aus Zwecken der Unterhaltung hechele ich mit anderen den gesamten gemeinsamen Bekanntenkreis durch. Frau möchte ja informiert sein!
  3. Minderwertigkeitskomplexe: Es gibt Tage, da schreit die Liste meiner Unfähigkeit als Hausfrau und Mutter nicht nur zum Himmel, sondern sie reicht auch bis dahin.
    „Schnell! Reden wir doch darüber, was alle anderen falsch machen, dann fühle ich mich besser.“ Für eine Sekunde oder so.

Wenn ich glaube, das klatschende Biest endlich weggesperrt zu haben, gerate ich gewiss in ein Kuddelmuddel unzufriedener Frauen. Und wie so oft gehen mir erst die Augen bzw. die Ohren auf, wenn ich es von anderen höre.

Meine Seele übergibt sich dann ein kleines bisschen und ich möchte die Faust auf den Tisch klatschen  gemäss Definition 1 a): ein [helles] schallendes Geräusch durch das Aufschlagen von etwas [weichem] Schwerem auf etwas Hartes von sich geben.

Ach, hätte ich doch dann den Mut, in die Runde zu schreien: „Mädels! Echt jetzt? Haben wir es nötig? Wenn ich uns anschaue, sind wir, jede auf unsere eigene Art wunderschön, haben tolle Charakterstärken und einzigartige Fähigkeiten.“

Und ich möchte mit Schwung die Liste ausrollen, die ich mir selbst immer lese:

  • Fokussiere deine Kreativität auf deine eigenen Stärken! Wenn dir keine einfällt, frag eine Person, die dir nahe steht, oder gehe zum Coach.
    (Der Motor der Unzufriedenheit fällt aus.)
  • Worin bist du bereits gut? Setze alles daran, darin hervorragend zu werden! Vertiefe diese Fähigkeiten und verfeinere sie! Plötzlich hast du keine Zeit mehr, wie ein Geier auf das Leben anderer zu starren und jede Bewegung zu beurteilen.
    (Der Motor der Langeweile verabschiedet sich.)
  • Lebe deine Begabung nach deiner Kraft an deinem Platz aus, und vergleiche dich nicht mit Madame XY und Mister Der-Sowieso-Alles-Besser-Kann!
    (Der Motor der Minderwertigkeitskomplexe sagt Ade.)

Anstatt Schlechtes zu reden, möchte ich lieber ein Klatschweib nach der Definition 2 c) sein: Durch Klatschen seine Zustimmung, Begeisterung ausdrücken; applaudieren.

Ich applaudiere an dieser Stelle bewusst für andere Frauen: meine Mutter, meine Töchter, meine Schwestern, meine Freundinnen, Arbeitskolleginnen, Nachbarinnen und verneige mich vor ihren Fähigkeiten.

So klatsche ich nämlich am liebsten. Und wie klatschst du?



„Die Menschen haben es gelernt, wilde Tiere, Vögel, Schlangen und Fische zu zähmen und unter ihre Gewalt zu bringen. Aber seine Zunge kann kein Mensch zähmen. Ungebändigt verbreitet sie ihr tödliches Gift. Mit unserer Zunge loben wir Gott, unseren Herrn und Vater, und mit derselben Zunge verfluchen wir unsere Mitmenschen, die doch nach Gottes Ebenbild geschaffen sind. Segen und Fluch kommen aus ein und demselben Mund. Aber genau das darf nicht sein! Fliesst denn aus einer Quelle gleichzeitig frisches und ungeniessbares Wasser?“

Die Bibel in Jakobus 3, 7-10

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Die Vogelbeerdigung

Photo by Zoya Loonohod on Unsplash
English Version below

Heute will ich gemeinsam mit den Kindern den Hamsterkäfig reinigen. Nachdem wir alles ausgebreitet haben, entdecken wir neben der Fensterscheibe eine kleine Kohlmeise, die mit gebrochenem Genick mausetot im Gras liegt.

Meine fast Sechsjährige ist am Boden zerstört. Sie steht zehn Minuten am Fenster und heult: „Vögeli… Vögeli… Vögeli…“ und lässt sich durch nichts beruhigen.

Inspiriert von einem Buch, das ich kürzlich gelesen habe (wohlgemerkt: es war ein Roman und kein Ratgeber), lesen wir den Vogel vorsichtig auf, pilgern an den zahlreichen Haufen vorbei, die die Nachbarskatzen hinterlassen haben, und betten den Vogel im Kompost zur letzten Ruhe. Den gebrochenen Körper umrahmen wir mit zwei Blümelein und den Vogelzeichnungen, die die Kinder extra anfertigen.

Wir sprechen ein Gebet, sagen ein paar nette Dinge über den armen, schönen Vogel und singen inbrünstig: „Alle Vögel sind schon da“ und „So nimm denn meine Hände“. Dann rezitieren wir einen Bibelvers über Spatzen und erörtern die essenzielle Frage: „Warum müssen wir sterben?“

Anschliessend widmen sich die Kinder wieder ihrem Spiel und der Kessel ist geflickt. Ich putze den Hamster-Käfig fertig und frage mich kurz, was hier los sein wird, wenn dieses geliebte Haustier mal das Zeitliche segnet…

„Welchen Wert hat schon ein Spatz? Man kann zwei von ihnen für einen Spottpreis kaufen. Trotzdem fällt keiner tot zur Erde, ohne dass euer Vater davon weiss. Bei euch sind sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt. Darum habt keine Angst! Ihr seid Gott mehr wert als ein ganzer Spatzenschwarm.“
Matthäus 10 29-31

Today, I want to clean the hamster cage together with my kids. After we have prepared everything we spot a dead bird in the grass. It probably flew into the window and broke its neck.
My almost six-year-old stands at the window and sobs uncontrollably: “Birdie … birdie … birdie …” For about ten minutes she can’t be comforted.

Inspired by a book I read recently (it should be noted that it was a novel and not a how-to-book) we take the birdie gently into our hands, navigate ourselves along the numerous piles of neighbour cat’s poop to the compost where we prepare the animal’s last bed. We frame the broken body with two flowers. The kids draw something for the bird.

We say a prayer and some nice things about that poor little fellow and sing two wonderful songs. We recite a bible verse about sparrows and discuss an essential question: “Why do we have to die?”


After that the kids go back to play and I go back and clean the hamster cage. Wondering briefly what will happen when that beloved pet is going to depart from this life….

“Are not two sparrows sold for a penny? Yet not one of them will fall to the ground apart from the will of your Father. And even the very hairs of your head are all numbered. So don’t be afraid; you are worth more than many sparrows.”

Matthew 10, 29-31