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Die Lage ist ernst

Den Moment werde ich nie mehr vergessen: Die Bundespräsidentin der Schweiz* blickt gefasst und eindringlich in die Kamera und verkündet mit schwerem Tonfall: „Meine Damen und Herren, die Lage ist ernst!“ Im gleichen Atemzug gibt sie die Schliessung aller Schulen bekannt. Etwas, das ich Stunden zuvor für absolut unmöglich gehalten habe, ist Tatsache.

Gemeinsam mit Tausenden weiteren Schweizerinnen und Schweizern begriff ich in diesen Minuten vor der Glotze: „Ja, das Virus, mitsamt der Angst im Schlepptau, ist jetzt auch bei uns angekommen.“ Was ich zuvor innerlich noch als „chinesische Seuche“ belächelt hatte – „Da haben sie ja ständig was.“ – wurde zum grössten Eingriff in die Zivilgesellschaft seit dem Zweiten Weltkrieg. Keiner wusste so genau: „Wie lange? Wo? Wann? Wer? Wie schlimm? Und was ist jetzt mit diesen Masken?“

Ich versuchte mich ungläubig mit der Tatsache anzufreunden, dass fortan Kind und Kegel (und Ehemann) pausenlos über meinen Küchenboden und meine Nerven hinwegtrampeln würden. Während ich mir die Hände wund schrubbte, googelte ich um Rat mit den Suchbegriffen: „Wie halte ich es länger als zwei Tage hintereinander mit meinen Liebsten aus?“ Oder: „Wie ertrage ich mein Kind ohne Lehrerin und Grosi**?“

„Mentale Hygiene“ wurde mein Mantra und „Sich jeden Tag neu erfinden“, meine neue Religion. Gähnende Leere im Terminkalender. Zitternde Knie beim Einkaufen. Der pure Kulturschock inmitten meiner vier Wände.

Dabei gehörte ich noch zur glücklichen Spezies: Mein Mann arbeitete ein bisschen im Homeoffice (Nähe!), ein bisschen in seinem Büro weit weg (Distanz!), und ein bisschen hatte er mehr frei (Thank you, God!!!). Meine zwei Mädels lernten hingebungsvoll miteinander zu spielen und bis auf die misslungene Episode mit dem Basteln siehe Eintrag „Dinosaurier und Magengeschwüre“ kamen wir ohne fremde Beschäftigungstherapie zurecht.

Bei mir persönlich herrschte kompletter Shutdown: Arbeit? Gestrichen! Sprachkurs? Abgesagt! Gottesdienst? Gecancelt! Freunde treffen? Gelöscht! Routinetermine? Weg damit! Mein Terminkalender war schneller geleert, als die ersehnte Wasserflasche eines Marathonläufers.

Anfangs hyperventilierte ich kurz: „Werden meine Eltern sterben?“ Oder: „Ich habe Schnupfen! Wen habe ich jetzt alles mit COVID-19 angesteckt?“ Dann kam ich zur Ruhe.

Herrliche, atmende, inspirierte Ruhe! Plötzlich war es genug, nach dem Essen noch ein bisschen sitzenzubleiben, ohne zu einem abendlichen Termin zu hetzen. Es war genug, morgens auf der Bettkante zu hocken und keinen Plan zu haben. Es war genug, einen halben Bibelvers zu lesen und drei Wochen lang immer wieder über dessen Schönheit und Bedeutsamkeit zu meditieren.

Gespräche mit Freunden und Nachbarn wurden einfach. Man freute sich über jedes bekannte Gesicht ausserhalb der vier Wände. Man lächelte sich an, verdrehte verständnisvoll die Augen, sagte „Wie geht’s?“ und „Bleibt alle gesund!“ und winkte zum Abschied kräftig und kehrte dann in seine Höhle zurück.

Vor meinen Augen verwandelte sich die pausenlos herumwuselnde, burnout- und herzinfarktgefährdete Insta-Gesellschaft in ein Volk von haustierhaltenden, hochbeetbepflanzenden, radfahrenden Naturburschen und –mädels! ***

Und ich selbst schrieb, schrieb, schrieb so viel wie seit Monaten nicht mehr. Nachdem beinahe alle äusseren Einflüsse weggefallen waren, mutierte mein Hirn zu einer beinahe unerschöpflichen Quelle kreativer Einfälle. Die letzten drei Wochen des Lockdowns dachte ich immer wieder: „Ich bin glücklich! So darf es bleiben! Eigentlich möchte ich nicht mehr zurück auf Hundert.“

Aber die Realität schlug unbarmherzig zu. Drei Wochen nach Schulstart hänge ich abends um acht wieder erschöpft auf der Sofakante und lasse den Tag Revue passieren:

„Habe ich jetzt den Wisch von der Schule unterschrieben oder gammelt er noch in der Küchenschublade vor sich hin? – Wem habe ich jetzt noch versprochen, dass wir uns nach dem Lockdown uuuunbedingt treffen wollen, weil wir uns ja soooo vermisst haben. – Und wie soll ich all die nachzuholenden Partys aneinander vorbeibringen?“

Ich rase mit 120 Stundenkilometern auf die Destination „Zustand wie vor dem Lockdown“ zu und frage mich verzweifelt, wo die Ausfahrt ist. Mein Mann hängt neben mir auf der Sesselkante. Augen zu und bleich um die Nase nach einer Woche mit sehr vielen Überstunden. Er seufzt abgrundtief, das Echo meines stummen Hilfeschreis.

Die Welt da draussen diskutiert sich die Köpfe heiss, welches Unternehmen noch eine Finanzspritze kriegt und ob und wann die zweite Welle über uns hereinbricht? Aber meine einzige Frage hier ist: „Liebe Frau Bundespräsidentin, wo ist das rote Plakat mit den Anweisungen, wie man sich resozialisiert, ohne auszubrennen?“ Soll mal jemand dazu eine Pressekonferenz halten … die Lage ist nämlich ernst.

*Bundespräsidentinnen und Bundespräsidenten der Schweiz werden vom Parlament für nur ein Jahr gewählt. Der- oder diejenige ist dann für das Jahr „primum inter pares“ oder „Erste/r unter Gleichen“. Das heisst, für begrenzte Zeit, begrenzte Macht.

** Offizielle Job-Bezeichnung für Grossmutter. In unseren Breitengraden Allzweckwaffe und Zufluchtsort, wenn einem die Kinder zu nahe treten.

*** Achtung! Hier leicht rosarot-romantisierte Wahrnehmung der Wirklichkeit!

Photo by Luis Villasmil on Unsplash

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Fassade

In den letzten Tagen und Wochen sind mir einige Menschen über den Weg gelaufen. Wobei man sich ja nicht mehr über den Weg laufen darf. Und deshalb muss ich korrekterweise sagen: Ich habe von ihnen gehört und gelesen.

Da gibt es die Corona-Verunsicherten: „Ich habe Schnupfen. Darf ich jetzt noch einkaufen gehen?“

Die Corona-Leugner: „Die Massnahmen des Bundes sind alle komplett übertrieben.“

Die Steigerung der Corona-Leugner sprich die Corona-Verschwörungstheoretiker: „Das ist alles nur ein Pakt der Klimaschützer! Das Virus wurde im Labor gezüchtet und von den Amerikanern bzw. den Chinesen auf die Menschheit losgelassen.“ (Das ist meine Lieblingsvariante. Darüber möchte ich gerne einmal einen Science-Fiction-Roman schreiben.)

Die Corona-Angsthasen: „Ich lebe von nun an unter meinem Bett. Wir sehen uns frühestens in vier Wochen wieder.“

Die Corona-Fatalisten: „Schlussendlich kommt es mir nicht so drauf an, was mich in den Himmel befördert. Wenn meine Zeit gekommen ist, dann ist sie gekommen.“

Die Corona-Abgebrühten: „Corona? Was ist das? Ich kann mich noch an die Lebensmittelmarken im Zweiten Weltkrieg erinnern!“

Die Corona-Hardcore-Psalm-91-Beter: „Selbst wenn die Pest im Dunkeln zuschlägt, und am hellen Tag das Fieber wütet, musst du dich doch nicht fürchten.“

Die Corona-Unheilspropheten: „Das wird alles noch viiiiel schlimmer.
60 – 70 % der Bevölkerung werden sich infizieren und davon werden 5 % sterben.“

Die Corona-Besserwisser: „Nein, es sind nicht 5 %, sondern 4,4 %.“

Die Corona-Jammerlappen: „Die Welt ist schlecht. Und mir geht’s gerade auch so richtig schlimm.“

Die Corona-Aktivisten: „Wie und wem kann ich jetzt helfen?“

Die Corona-Optimisten: „Aus dem allem, werden wir als bessere Menschen hervorgehen.“

Die Corona-Mutmacher: „Kopf hoch! Alles geht vorbei! Auch Corona!“

Die Corona-Wutbürger: „Die Regierung hat’s voll nicht im Griff. Sie hätten die Massnahmen viel früher / später ergreifen sollen.“ (Nicht Zutreffendes bitte durchstreichen.)

Die Corona-Selbstgerechten: „Was sind das bloss für Asoziale, die jetzt noch vor die Haustür gehen???“

Die Corona-Selbstinszenierer: „Ich poste tausend Fotos von mir, wie ich zu Hause bleibe und meeeeega Spass dabei habe.“

Die Corona-Kreativen: „Endlich habe ich genug Zeit, um meine lang liegengebliebenen Herzens-Projekte auszuführen.“

Vermutlich gibt es noch viel mehr Kategorien, welche ich bewusst etwas überzeichnet habe. So vielfältig wir sind, so unterschiedlich gehen wir mit der Krise um.

Aber ich möchte nicht an einer Schubladisierung hängenbleiben, sondern etwas in die Tiefe gehen. Aus diesem Zweck starte ich ein Experiment. Machst du mit?

Ich suche mir eine der obigen Kategorien aus, die am ehesten auf mich zutrifft. Bei mir ist das zum Beispiel „Die Corona-Verunsicherte“. (Das zuzugeben tut mir am wenigsten weh!)

Siehst du dich selbst auch in einem oder zwei dieser Kategorien? Dann triff mal deine Wahl! Hast du’s? Gut!

Jetzt nehmen wir nämlich einen Stift und streichen bei jeder Kategorie das Wort Corona durch.

Corona-Verunsicherte

Corona-Leugner

Corona-Verschwörungstheoretikerin

Corona-Angsthase

Corona-Fatalistin

Corona-Abgebrühter

Corona-Hardcore-Psalm-91-Beterin

Corona-Unheilsprophet

Corona-Besserwisserin

Corona-Jammerlappen

Corona-Aktivistin

Corona-Optimist

Corona-Mutmacherin

Corona-Wutbürger

Corona-Selbstgerechte

Corona-Selbstinszenierer

Corona-Kreative

Und? Trifft die Bezeichnung immer noch auf dich zu?

Wenn du in den Spiegel schaust: Hast du den Mut, zuzugeben: Ja, ich bin verunsichert. Ja, ich habe Angst. Nein, ich traue der Regierung nicht. Ja, ich bin selbstgerecht.

Nebst dem, was dieses Coronavirus alles zerstört, es zerlegt auch systematisch die Fassade, die wir schon lange und so sorgsam um uns herum aufgebaut haben, und hinter der wir uns so lange verstecken konnten.

Wir kleisterten Farbe und Blumenschmuck über unsere hässlichen Charakterzüge. Ein Lächeln über ein weinendes, zerbrochenes Herz. Wir sagten: „Danke, es geht mir gut“, obwohl wir lieber schreien wollten. Wir grüssten einander freundlich, obwohl wir uns am liebsten die Meinung gegeigt hätten. Wir heuchelten Bescheidenheit, obwohl wir endlich aus unserem engen Käfig ausbrechen wollten. Wir versteckten Zorn, Trauer, üble Gedanken, Stolz oder sogar Talente.

So stolzierten wir durch die Lande, bis das Virus kam, und uns zeigt, wie dünn eigentlich der Firnis ist, den wir zur Schau tragen. Unsere echten Empfindungen streben in Windeseile an die Oberfläche. Der Lack ist ab. Und was geschieht jetzt?

Der Blick in den Spiegel mag schmerzhaft sein, aber es ist nicht das Ende der Geschichte. Es geht weder darum, sich für die eigenen Schwächen zu verdammen oder die Stärken zu verleugnen.

Wenn wir innehalten und uns ehrlich betrachten, kann es auch eine Chance sein. Eine Chance loszulassen, sich verletzlich zu machen, Mangel zuzugeben, zuzulassen heil und ganz zu werden. Oder sich wenigstens auf die Suche nach Hilfe und Antworten zu begeben.

Kann aus einem Angsthasen eine mutige Löwin werden? Oder aus einem Unheilspropheten, jemand, der auf Gott vertraut? Wird aus einer Leugnerin, eine Frau, die furchtlos der Realität ins Auge blickt? Kann aus einem Selbstinszenierer, jemand werden, der die Bedürfnisse der Menschen um sich herum wahrnimmt? Kann aus dem Sieben-Tage-Regenwetter-Pessimisten, jemand werden, der Hoffnung verbreitet?

Ich glaube: Ja!

Meine Kräfte möchte ich nicht mehr darauf verwenden, die Fassade aufrecht zu erhalten und vor anderen gut dazustehen. Stattdessen möchte ich mich auf die guten Dinge zu konzentrieren, die in mir schlummern. Der Optimismus, das Kreative, das Gottvertrauen, der kühle Kopf, die Mutmacherin, die Hoffnungsträgerin.

Denn eines Tages wird Corona aus unserem Alltag gestrichen sein. Das, was zurückbleibt, ist entscheidend.

Photo by Erik Eastman on Unsplash