In den letzten Tagen und Wochen sind mir einige Menschen über den Weg gelaufen. Wobei man sich ja nicht mehr über den Weg laufen darf. Und deshalb muss ich korrekterweise sagen: Ich habe von ihnen gehört und gelesen.
Da gibt es die Corona-Verunsicherten: „Ich habe Schnupfen. Darf ich jetzt noch einkaufen gehen?“
Die Corona-Leugner: „Die Massnahmen des Bundes sind alle komplett übertrieben.“
Die Steigerung der Corona-Leugner sprich die Corona-Verschwörungstheoretiker: „Das ist alles nur ein Pakt der Klimaschützer! Das Virus wurde im Labor gezüchtet und von den Amerikanern bzw. den Chinesen auf die Menschheit losgelassen.“ (Das ist meine Lieblingsvariante. Darüber möchte ich gerne einmal einen Science-Fiction-Roman schreiben.)
Die Corona-Angsthasen: „Ich lebe von nun an unter meinem Bett. Wir sehen uns frühestens in vier Wochen wieder.“
Die Corona-Fatalisten: „Schlussendlich kommt es mir nicht so drauf an, was mich in den Himmel befördert. Wenn meine Zeit gekommen ist, dann ist sie gekommen.“
Die Corona-Abgebrühten: „Corona? Was ist das? Ich kann mich noch an die Lebensmittelmarken im Zweiten Weltkrieg erinnern!“
Die Corona-Hardcore-Psalm-91-Beter: „Selbst wenn die Pest im Dunkeln zuschlägt, und am hellen Tag das Fieber wütet, musst du dich doch nicht fürchten.“
Die Corona-Unheilspropheten: „Das wird alles noch viiiiel schlimmer.
60 – 70 % der Bevölkerung werden sich infizieren und davon werden 5 % sterben.“
Die Corona-Besserwisser: „Nein, es sind nicht 5 %, sondern 4,4 %.“
Die Corona-Jammerlappen: „Die Welt ist schlecht. Und mir geht’s gerade auch so richtig schlimm.“
Die Corona-Aktivisten: „Wie und wem kann ich jetzt helfen?“
Die Corona-Optimisten: „Aus dem allem, werden wir als bessere Menschen hervorgehen.“
Die Corona-Mutmacher: „Kopf hoch! Alles geht vorbei! Auch Corona!“
Die Corona-Wutbürger: „Die Regierung hat’s voll nicht im Griff. Sie hätten die Massnahmen viel früher / später ergreifen sollen.“ (Nicht Zutreffendes bitte durchstreichen.)
Die Corona-Selbstgerechten: „Was sind das bloss für Asoziale, die jetzt noch vor die Haustür gehen???“
Die Corona-Selbstinszenierer: „Ich poste tausend Fotos von mir, wie ich zu Hause bleibe und meeeeega Spass dabei habe.“
Die Corona-Kreativen: „Endlich habe ich genug Zeit, um meine lang liegengebliebenen Herzens-Projekte auszuführen.“
Vermutlich gibt es noch viel mehr Kategorien, welche ich bewusst etwas überzeichnet habe. So vielfältig wir sind, so unterschiedlich gehen wir mit der Krise um.
Aber ich möchte nicht an einer Schubladisierung hängenbleiben, sondern etwas in die Tiefe gehen. Aus diesem Zweck starte ich ein Experiment. Machst du mit?
Ich suche mir eine der obigen Kategorien aus, die am ehesten auf mich zutrifft. Bei mir ist das zum Beispiel „Die Corona-Verunsicherte“. (Das zuzugeben tut mir am wenigsten weh!)
Siehst du dich selbst auch in einem oder zwei dieser Kategorien? Dann triff mal deine Wahl! Hast du’s? Gut!
Jetzt nehmen wir nämlich einen Stift und streichen bei jeder Kategorie das Wort Corona durch.
Corona-Verunsicherte
Corona-Leugner
Corona-Verschwörungstheoretikerin
Corona-Angsthase
Corona-Fatalistin
Corona-Abgebrühter
Corona-Hardcore-Psalm-91-Beterin
Corona-Unheilsprophet
Corona-Besserwisserin
Corona-Jammerlappen
Corona-Aktivistin
Corona-Optimist
Corona-Mutmacherin
Corona-Wutbürger
Corona-Selbstgerechte
Corona-Selbstinszenierer
Corona-Kreative
Und? Trifft die Bezeichnung immer noch auf dich zu?
Wenn du in den Spiegel schaust: Hast du den Mut, zuzugeben: Ja, ich bin verunsichert. Ja, ich habe Angst. Nein, ich traue der Regierung nicht. Ja, ich bin selbstgerecht.
Nebst dem, was dieses Coronavirus alles zerstört, es zerlegt auch systematisch die Fassade, die wir schon lange und so sorgsam um uns herum aufgebaut haben, und hinter der wir uns so lange verstecken konnten.
Wir kleisterten Farbe und Blumenschmuck über unsere hässlichen Charakterzüge. Ein Lächeln über ein weinendes, zerbrochenes Herz. Wir sagten: „Danke, es geht mir gut“, obwohl wir lieber schreien wollten. Wir grüssten einander freundlich, obwohl wir uns am liebsten die Meinung gegeigt hätten. Wir heuchelten Bescheidenheit, obwohl wir endlich aus unserem engen Käfig ausbrechen wollten. Wir versteckten Zorn, Trauer, üble Gedanken, Stolz oder sogar Talente.
So stolzierten wir durch die Lande, bis das Virus kam, und uns zeigt, wie dünn eigentlich der Firnis ist, den wir zur Schau tragen. Unsere echten Empfindungen streben in Windeseile an die Oberfläche. Der Lack ist ab. Und was geschieht jetzt?
Der Blick in den Spiegel mag schmerzhaft sein, aber es ist nicht das Ende der Geschichte. Es geht weder darum, sich für die eigenen Schwächen zu verdammen oder die Stärken zu verleugnen.
Wenn wir innehalten und uns ehrlich betrachten, kann es auch eine Chance sein. Eine Chance loszulassen, sich verletzlich zu machen, Mangel zuzugeben, zuzulassen heil und ganz zu werden. Oder sich wenigstens auf die Suche nach Hilfe und Antworten zu begeben.
Kann aus einem Angsthasen eine mutige Löwin werden? Oder aus einem Unheilspropheten, jemand, der auf Gott vertraut? Wird aus einer Leugnerin, eine Frau, die furchtlos der Realität ins Auge blickt? Kann aus einem Selbstinszenierer, jemand werden, der die Bedürfnisse der Menschen um sich herum wahrnimmt? Kann aus dem Sieben-Tage-Regenwetter-Pessimisten, jemand werden, der Hoffnung verbreitet?
Ich glaube: Ja!
Meine Kräfte möchte ich nicht mehr darauf verwenden, die Fassade aufrecht zu erhalten und vor anderen gut dazustehen. Stattdessen möchte ich mich auf die guten Dinge zu konzentrieren, die in mir schlummern. Der Optimismus, das Kreative, das Gottvertrauen, der kühle Kopf, die Mutmacherin, die Hoffnungsträgerin.
Denn eines Tages wird Corona aus unserem Alltag gestrichen sein. Das, was zurückbleibt, ist entscheidend.
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