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Unkraut

Unkraut verdirbt nicht. Heute stehe ich am Rande meines Gartens und überzeuge mich selbst davon. Ich sehe die Gräser, die zwischen den Steinplatten emporwuchern, und die ich letzthin noch mit Unkrautvertilger hatte besprühen wollen. Vor mir liegt der samtweiche aber unregelmässig gemähte Rasen, denn die Klinge des Rasenmähers ist auf einer Seite stumpf geworden. Im Wintergarten wartet ein Korb mit zusammengelegter Wäsche auf mich.

Wo ich mich umschaue, sehe ich, was ich noch tun könnte, um alles um mich herum schöner und besser zu machen. Im Haus drin fällt mein Blick auf die weisse Wand, an der sich die Kleine in einem unbeobachteten Moment kreativ mit Farbe ausgetobt hat. Sehe den Schuhsalat in der Garderobe, den Bücherstapel, den die Kinder immer wieder von Neuem durchlesen und der schon ganz schief auf der Sofalehne hängt.

Zu Hause wurden wir in Fragen des Haushalts mit finnischer Hand erzogen. Es ist nicht so, dass wir in einem heillosen Chaos grossgeworden wären, aber das gute alte Schweizer-Hausfrauen-Gen fliesst nicht durch unsere Venen.

Als Teenager begann ich, das Chaos anzubeten. Es war mir herzlich egal, was wo zu liegen kam, und eine schwarze Ader tief in mir drin freute sich diebisch, wenn ein Besucher sichtlich die Fassung verlor, über der Frage, wie man in einer solchen Räuberhöhle hausen kann.

Damals rebellierte ich so gegen eine Welt, in der ich ansonsten immer versuchte, auf fromme Art und Weise Gott und die Menschen zu beeindrucken. Mein persönlicher Lebensraum war der Ort, in dem ich endlich alles fallen lassen konnte. Meine Unordnung wurde in unserer Familie sogar sprichwörtlich.

Natürlich will niemand auf ewig in einer Räuberhöhle leben. Doch ich war planlos, wie ich etwas daran ändern konnte. Der geseufzte Wunsch einer Kollegin von mir: „Lydia, ich wünsche dir, dass du mal einen Mann kriegst, der Ordnung hält!“, wurde mein heimliches Gebet, was ich aber nicht mal vor mir selbst zugegeben hätte.

Der Mann tauchte auf und – oh Wunder! – er hatte einen grösseren Sinn für Ordnung als ich. Es war vorprogrammiert, dass in unserer Ehe erst mal die Fetzen flogen. Tränen flossen und unschöne Worte wechselten den Besitzer, bevor ich zugeben konnte, dass ich mir ein belehrbares Herz bewahren wollte. Und mein Mann hatte tatsächlich einen Haufen äusserst hilfreiche Tipps für meine scheinbar unheilbare Lebensweise in petto.

Und – zweites Wunder! – ich war in der Lage zu lernen. Heute kann ich in einer normalen Woche meinen Zimmerboden soweit aufräumen, dass man mit dem Staubsauger durchfahren kann. Auch im Wohnzimmer kommt die Maschine regelmässig zum Einsatz. Ich ertappe mich gelegentlich dabei, dass ich mich an einer blankgeputzten Tischplatte erfreue. So richtig. Mit tief empfundenen Glücksgefühlen und so.

Manchmal aber laufe ich durchs Dorf und beobachte die Frauen, die in und ums Haus herum arbeiten. Mit der Nagelschere frisieren sie ihren englischen Rasen, mit dem Wischmopp bohnern sie einen bereits blitzblanken Eingang und in fieberhafter Wut, polieren sie Fensterscheiben.

Fünf Minuten falle ich dann in die die zwei Todsünden – das Vergleichen und den Neid – zurück und bedaure: „So weit werde ich nie sein.“

Und nach den Momenten der Unzulänglichkeit, spüre ich tief in meinem Herzen, dass ich es mag – das Unperfekte. Ich mag den gelben Löwenzahn, der zwischen den Steinplatten emporwächst. Ich liebe es, wenn meine Kinder die Walderdbeeren pflücken, die überall sind, wo sie nicht sein sollten. Ich liebe schräge Linien, und Kleider, die nicht zusammenpassen. Ich mag Bücherstapel und Schuhsalate und kunterbunte Wäschekörbe.

Ich fühle mich sehr wohl in dem Niemandsland zwischen Saustall und Paradiesgarten. Da lässt es sich nämlich wunderbar leben.

Photo by Teemu Paananen on Unsplash